Mittwoch, 16. September 2015

Europa braucht ein Wir-Gefühl

Die aktuellen Krisen fördern es zutage. Den Europäern fehlt eine gemeinsame Identität. Weil sie versäumt haben, ein "Wir-Gefühl" zu entwickeln, tun wir uns jetzt so schwer, die Flüchtlingskrise oder auch die griechische Krise zu lösen.

Schon die Finanzkrise um Griechenland, besonders aber die in den letzten Wochen eskalierte Flüchtlingskrise haben eine Eruption angestauter Gefühle hervorgebracht. An der Debatte um die schier endlosen Flüchtlingsströme beteiligt sich beinahe jede/r. Leidenschaftlich wird das Für und Wider von Asyl und Zuwanderung debattiert. Zugleich stellen wir fest, dass wir so nicht weiter machen dürfen, kopf- und planlos, ohne eine gemeinsame europäische Idee. Wir alle spüren, dass die Zeit für die Entscheidung über die Zukunft der Europäischen Union gekommen ist.
Unser Bauchgefühl sagt ganz deutlich, das die Herausforderug eben nicht das Finden der effizientesten ökonomischen oder der überzeugendsten politischen Lösung ist. Was wir jetzt brauchen, ist eine europäische Vision, eine, die allen BürgerInnen eine zukunftsorientierte neue Form von Sinn und Identität geben kann.

Dazu bedarf es einer interkulturellen Perspektive. Es gibt nun mal keine Normen und Werte, die für alle europäischen Gesellschaften geeignet wären. Aber wir können Umstände entwickeln, die die Menschen die Welt in einem ausreichend gemeinsamen Licht sehen, das sie verbindet und ihnen ein gemeinsames Ziel aufzeigt.
Das wesentliche Problem der Europäische Union ist kein ökonomisches und kein politisches, sondern ein soziales. Die wirtschaftlichen und politischen Probleme sind nur Symptome der viel größeren Herausforderung. Es ist die Entwicklung eines europäischen Zielbewusstseins.
Für sich betrachtet lassen sich die wirtschaftlichen oder politischen Probleme der EU leicht bewältigen. Viele Ökonomen haben recht, wenn sie sagen, dass die Sparpolitik die wirtschaftliche Depression in Griechenland verschlimmert (hat). Andere (meist Deutsche) Ökonomen haben Recht, wenn sie sagen, dass ein bedingungsloser Schuldenschnitt Korruption und Ineffizienz in Griechenland weiter bestehen lässt und von den Geldgebern weiter finanziert würde. 


Genauso haben Kritiker Recht, die eine bedingungslose Öffnung der Grenzen ablehnen, weil sie zu Recht befürchten, dass die Kapazitäten für eine funktionierende Erstaufnahme absehbar erschöpft sind - oder weil sie, ebenfalls zu Recht, fordern, dass die Flüchtlinge auf alle EU Mitglieder zu verteilen seien. Genauso haben diejenigen Recht, die jetzt sagen, es wurde schon viel zu lange nur geredet, jetzt ist einfach die Zeit für Hilfe und Barmherzigkeit und die in der Gewissheit leben, dass wir diese große Menge ab Menschen integrieren können.
Doch immer stehen sich die Lager festgefahren in ihren Ansichten gegenüber. Was ihnen fehlt, ist eine gemeinsame europäische Identität, ein Zugehörigkleitsgefühl zu Europa. Statt dessen ist diese Zugehörigkeit aber von nationalen Grenzen und Gefühlen bestimmt. Die PolitikerInnen in den einzelnen Mitgleidsländern vertrauen einander nicht. Misstrauen führt zum scheitern jedweder Kooperation und mündet oftmals in Konfrontation und Konflikte. Und das, obwohl ein elementarer Grund für de Gründung der Europäischen Union es war, genau solche Konflikte undenkbar zu machen. Es wäre eine der größten anzunehmenden Tragödien, wenn ausgerechnet die aktuellen Probleme der Flüchtlingsströme und der wirtschaftlichen Krisen zu neuen Feindschaften in Europa führen würden.


Die EU muss deshalb ihren Mitgliedern (und damit ihren BürgerInnen) eine Inspiration, eine zukunfstweisende Vision, bieten. Damit meine ich deutlich mehr wie das Versprechen auf möglichen wirtschaftlichen Wohlstand, basierend auf freien Märkten und internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Eine gemeinsame Identität wächst nicht allein durch freien Handel in einem gemeinsamen Markt, denn die Gesellschaft ist eben mehr als ein Marktplatz.
Erfolgreiche Gesellschaften erzeugen ein Verständnis sozialer Zugehörigkeit, basierend auf zwischenmenschlichen Beziehungen, einem gemeinsamen Verständnis einer gemeinschaftlichen Vergangenheit und der Vision von einer kollektiven Zukunft.
Wir als BürgerInnen der Europäischen Union müssen uns darüber im Klaren sein, das es an der Zeit ist, eine Vision zu entwickeln, die die europäischen Völker dazu bewegt, sich gegenseitig zu unterstützen. Weil wir ein gemeinsames Ziel haben. Deshalb müssen und sollen die nationalen, regionalen, religiösen und kulturellen Zugehörigkeiten nicht aufgegeben werden. Eine europäische Identität wird als gemeinsame Basis die vorhandenen Identitäten ideal ergänzen und erweitern. Praktische Wege dahin sind ansatzweise bereits vorhanden. Jeder junge Europäer könnte ein soziales Jahr in einem anderen EU Land machen, dort leben, Menschen, ihre Kultur, Sprache, Religion oder soziale Einordnung erleben - und gemeinsam mit ihnen an gesellschaftlich relevanten Projekten arbeiten. Wer die Erfahrung macht, bei Menschen in einem anderen Land als Gast willkommen zu sein, die anders sind als man selbst, wird einen anderen Blick auf Europa und seinen Wert an sich gewinnen.
Auch ein einheitlicher europäischer Arbeitsmarkt würde helfen, bestehende kulturelle und sprachliche Barrieren zu überwinden und einen wichtigen Impuls für die soziale Integration Europas geben. Auch die Implementierung einer gemeinsamen Finanzpolitik ist dringend erforderlich. Zwar gibt es die Maastricht Kriterien, aber dagegen verstoßen ja sogar Deutschland und Frankreich - und nicht nur die Krisenländer wie Griechenland.
Klar braucht es Zeit, bis aus diesen und weiteren Maßnahmen eine gemeinsame europäische Identität entsteht. Aber wann wollen wir damit beginnen, wenn nicht jetzt? Schon kleine Erfolge werden uns schnell in eine Zukunft bewegen, die sich stark von dem "Elend" unterscheidet, in dem wir jetzt festsitzen. Und ein solch kleiner Erfolgschimmer wird bereits ausreichen, um uns einen toleranteren Umgang miteinander zu lehren. Das würde dem großartigen europäischen Projekt neues Leben einhauchen. Es gibt wohl keine bessere Zeit als jetzt, um damit zu beginnen.  

Donnerstag, 3. September 2015

Entscheidung für Europa

Die Flüchtlingskrise überfordert die EU heillos. Die damit sichtbar werdende Inkompetenz ist auch eine große Gefahr für die Europäische Union selbst.
Viele Jahrhunderte lang plagten die Menschen in Europa Kriege, Hungersnöte und bittere Armut. Millionen Europäer wanderten deshalb aus, getrieben von blanker Not. Nach Nord- oder Südamerika, sogar bis nach Australien. Sie taten alles um ihrer scheinbar ererbten Not für sich und ihre Kinder zu entkommen. Heute würden wir diese Europäer als "Wirtschaftsflüchtlinge" bezeichnen.
Im 20. Jahrhundert waren dann rassistische Verfolgung, politische Unterdrückung und die Folgen von zwei Weltkriegen die Hauptursachen für eine Flucht.
Und Heute? Die EU ist wahrscheinlich der reichste Wirtschaftsraum der Welt. Die meisten Europäer leben seit Jahrzehnten friedlich in demokratischen Staaten. Es gibt garantierte Grundrechte und eine einmalige soziale Infrastruktur.
Erinnerungen an ferne Zeiten der Not scheinen in Europa ausgelöscht zu sein. Deshalb fühlen sich die Menschen und ihre PolitikerInnen so bedroht. Nicht durch Putin und seine agressive russische Expansionspolitik, sondern durch Zuwanderer und Flüchtlinge, die Ärmsten der Armen. Sie kommen in Massen nach Europa und scheinen Frieden und Wohlstand zu gefährden.
Während tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken oder auf dem Landweg in LKW's ersticken, werden Rufe nach Massendeportationen, nach Abschottung, kilometerlangen Zäunen und Mauern immer lauter. Sechsundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer zeigt sich Fremdenfeindlichkeit und Rassismus wieder ganz offen. Nationalistische und rechtsradikale Parteien feiern wieder Erfolge.
Dabei ist der heiße Sommer 2015 erst der Beginn der aktuellen Flüchtlingskrise. Die Ursachen können nicht so schnell verschwinden, sie werden sich eher verstärken. Die europäischen Staaten sind ganz offensichtlich politisch, moralisch und administrativ zu keiner gemeinsamen Lösung bereit. Letzteres ist äußerst beschämend, denn die Mehrheit der EU Staaten verfügt über hervorragend ausgestattete und große Sozialbürokratien.
Dieser Unwillen, gepaart mit einer großen Portion Unfähigkeit, gefährdet aber am Ende die gesamte Europäische Union. Es wird auf Dauer nicht gutgehen, wenn nur eine Handvoll Mitgliedstaaten versuchen, das Problem zu lösen, während sich die anderen verweigern. Damit verstärkt sich nämlich die bereits durch die Wirtschaftskrise 2009 begonnene Desintegration und Entsolidarisierung innerhalb der EU.
Statt dessen braucht es eine gemeinsame, solidarische Anstrengung. Doch die EU ist auf diese aktuelle Entwicklung Außenpolitisch überhaupt nicht vorbereitet. Die meisten Krisen liegen direkt vor unserer Haustür. Eine seit Jahren anhaltende Wirtschaftskrise auf dem westlichen Balkan, unfassbar grausame Kriege und Bürgerkriege im Nahen Osten wie in Afrika. Dazu kommt noch eine ebenso furchtbare Wirtschaftskrise auf dem afrikanischen Kontinent.
Die EU verharrt aber in einem Handlungsdefizit. Das wird noch verstärkt, weil ein zunehmendes Problem bei der Legitimität der EU durch die BürgerInnen gesehen wird. Folglich stärkt das in den einzelnen Staaten fremdenfeindlichen, nationalistischen Populismus.

Die Politik, sowohl auf euroäischer als auch nationalstaatlicher Ebene, muss den BürgerInnen endlich erklären, dass wir hohe Wirtschaftskraft, Wettbewerbsfähigkeit und soziale Sicherheit ohne Zuwanderung nicht erhalten können. Dies ist eben keine "Entweder-Oder-Frage". Das eine geht ohne das andere nicht. Einfaches Beispiel am Schluss: was wäre die deutsche Nationalmannschaft ohne die fussballspielenden Kinder von Migranten? Jedenfalls nicht zum vierten Mal Weltmeister.