Dienstag, 28. Juni 2016

Europa in Aufregung

Die Volksabstimmung in Großbritannien hat die Menschen in Europa in helle Aufregung versetzt. Die Nachbeben dauern an, in den Hauptstädten der europäischen Mitgliedsstaaten und in Brüssel beharrt das Establishment auf einem trotzigem "Jetzt erst Recht".

Ursachenforschung gefällig? Dann stellen Sie sich folgendes vor:

  • für die Wahl des kommenden Bundespräsidenten in Deutschland sind etablierte, erfahrene PolitikerInnen wie Steinmeier, Schäuble oder von der Leyen nicht mehr zugelassen. Linke und rechte Parteien in der Bundesversammlung machen statt dessen die Wahl unter sich aus. Kann nicht passieren, meinen Sie? Eine solche Konstellation mit all ihren Folgen hatten wir gerade in Österreich.
  • die Basis der konservativen Parteien CDU/CSU ist von der eigenen Funktionärskaste völlig entnervt und duldet daher keinen aus ihren Reihen als Spitzenkandidat für die Bundestagswahl 2017. Sie entscheidet sich daher lieber für einen fragwürdigen Geschäftemacher, der absolut nichts von Politik, dafür aber sehr viel von Beleidigungen versteht. Sie meinen, das ist unmöglich? Ist es doch und findet genau so gerade in den USA statt.
  • mal angenommen, wir in Deutschland würden über die Europäische Union und ihre Politik abstimmen. Am Tag nach einer denkbar knappen Entscheidung gegen die EU titelt die Bild-Zeitung: "Die schweigende Mehrheit ist gegen eine arrogante politische Elite aufgestanden. Wir verneigen uns vor dem Land und seinen Menschen". Undenkbar sagen Sie auch hier? Inhaltlich genauso stand es am Tag nach der Brexit Entschsiung in großen Lettern auf der Titelseite der "Daily Mail" in Großbritannien.
Der Aufstieg des Populismus und der Niedergang von politischer Führungsfähigkeit finden sich gemeinsam auf einer Medaille wieder. Aber sie hängen ganz anders zusammen, als es die etablierten Parteien gerne verbreiten. Die Populisten haben den Kontrollverlust der etablierten Parteien nicht herbeigeführt. Sie sind nur sein Abbild und geben dabei den empörten Bürger*innen eine Stimme. Doch dafür müssen wir nicht die Empörten verurteilen. Denn sie sind, wie auch wir, mitreisende Passagiere in einem riesigen Jumbojet, dessen Piloten in einem tiefen weltfremden Traum versunken sind. Der Flieger trudelt bereits, die Reisenden versuchen lautstark, die Piloten darauf aufmerksam zu machen. Klar ist allen, dass niemand von den Passagieren den Jumbojet jetzt fliegen darf. Aber die Piloten-Crew muss dringend und sofort aufwachen.
Überall in den nationalen Gesellschaften ist ganz oben eine teilweise extrem hoch bezahlte Schicht von Experten und Managern etabliert, ganz unten ist ein immer weiter wachsendes Herr des "Prekariats" entstanden. In der normalerweise stabilisierenden Mitte der Gesellschaften sind Verluste entstanden und weiten sich aus. Die sind echt und gefühlt, der andauernde Streit um das Ausmaß ist rein akademisch, denn auch die gefühlten Verluste sind letztlich schwere Verluste in einer Gesellschaft.
Doch Volkswirtschaften brauchen einen ausgleichenden Staat, einen, der in den sozialen Beziehungen für Frieden sorgt. Besonders die europäischen Gesellschaften brauchen diesen Staat auch, damit der Eigentumsbegriff das große Beben in der Welt übersteht. Sie brauchen Zuwanderung, aber sinnvoll und gerecht verteilt. Sie wollen Europa, aber keine bürokratische Einheitsorgie. Und die europäischen Gesellschaften brauchen endlich eine Geldpolitik, die nicht mehr das Geld der Bürger in Richtung der Spekulanten verschiebt.
Deshalb ist die Legitimationskrise der politischen Systeme so gefährlich und dramatisch. Die etablierte Politikerkaste ist nicht mehr in der Lage, für den so sehr nötigen gesellschaftlichen Ausgleich zu sorgen. Schlimmer noch, sie hat ihn aus den Augen verloren. So ist die Europäische Zentralbank zu größten Gelddruckmaschine des Kontinents geworden. Die Kontrolle der Stabilitätskriterien aus dem Vertrag von Maastricht findet praktisch nicht mehr statt.

Um den europäischen Polit-Adel muss niemand eine Träne weinen. Doch um die Europäische Idee müssen wir alle ein Meer von Tränen vergießen. Von allem, was dieser Kontinent in den letzten einhundert Jahren geboren hat, ist sie das wertvollste, was wir haben. Ja, es gibt Gründe, die EU abzulehnen, aber es gibt keinen einzigen, um die Vision der europäischen Verständigung und länderübergreifenden (wirtschaftlichen) Kooperation jetzt oder in Zukunft zu beerdigen.
Diese Idee, diese Vision kann und wird uns alle immer wieder inspirieren und aufmuntern. Deshalb ist der Brexit auch ein Weckruf, den wir in die Wagenburgen der Macht tragen müssen, damit er dort auch gehört wird. Das europäische Haus sieht inzwischen aus wie der schiefe Turm von Pisa. Es hat eine gefährliche Neigung. Doch auch der Turm in Pisa hat die Jahrhunderte überdauert, weil die Menschen immer weiter an seinen Fundamenten gearbeitet haben.

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