Die Reise nach Berlin zu Sohn und Enkelin war lange geplant. Dann der
erste überraschende Anruf. „Du darfst nicht kommen“. Drei Fragezeichen
auf der Stirn, zumindest gefühlt. „Ich bin positiv getestet und hab
Corona“. Also 14 Tage Quarantäne. Das Kind? Nix, keine Quarantäne. Nun
ja, sie ist 14 und kann sehr erwachsen sein.
Zwei Tage später der nächste Anruf, diesmal die Enkelin. Ab
Montag ist keine Schule mehr. Wir müssen noch mal kurz hin, bekommen für
zwei Wochen Aufgaben. Sie nennen das „Homeschooling“, sagt sie.
So
blieb plötzlich der wöchentliche Anruf aus, in dem sich die Enkeltochter
über die Besonderheiten im Allgemeinen und die Merkwürdigkeiten im
Besonderen in der Schule, bei Lehrer*innen und Mitschüler*innen gerne
mal ausgetauscht hat.
„Corona hat der Schule den Garaus gemacht“, war ihr knapper
Kommentar. Montags kam sie mit Bergen von Kopien nach Hause. Alles
Aufgaben, die bis zu den Osterferien gelernt und gelöst sein wollen. Für
die meisten Fächer alles in Papier. Nachfragen bei den Lehrer*innen?
Pustekuchen, die mit den Kopien tauchten erst mal ab. Immerhin, die
Matheaufgaben und der zugehörige Lernstoff, das gab es alles online.
Ausgerechnet die Lehrerin, die alle nicht besonders mögen, macht einen
beinahe coolen digitalen Unterricht. Das war natürlich nicht nur in
Berlin so. Bei den Kindern meiner Nachbarin sah das ähnlich aus. Die
Unterschiede der Schulsysteme und -ausstattungen taten sich auf wie
schwarze Löcher. Von abgetauchten Pädagog*innen bis zu denen, die sich
als digitale Superlehrer*innen outeten war alles dabei. Mir gefielen die
morgendlichen Unterrichtsstunden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
Fragt sich nur, warum es die nicht schon immer gab. Irgendjemand war
immerhin so schlau und hatte jede Menge Stoff auf Halde produziert.
Ich schaute herum, beobachtete, wie die ersten 2-3 Wochen so liefen.
Nebenan, bei Freund*innen in anderen Bundesländern, beim Enkelkind in
Berlin.
Eltern, Großeltern (per Telefon) und Patentanten, eigentlich ein
ganzes Volk, mutierte zu Hauslehrer*innen. Mindestens im Zweit- oder
Drittberuf. Der (angeblich) zivilisatorische Fortschritt der
Arbeitsteilung als Motor der Effizienz wurde mal eben von der
Corona-Arbeitskleingruppe in heimischen Gefilden zurückgedreht. Es ist
nur zwei Monate her, da wäre das heimische Beschulen durch die Familie
juristisch als krimineller Akt verfolgt worden. Nun ist es Solidarität
im Rahmen einer neuen „Wir bleiben zu Hause“ Kultur. „Wir schaffen den
vom Lehrer vorgegebenen Stoff für einen Vormittag jetzt in einer
Stunde“, berichtet ein Freund euphorisch am Telefon. Er wechselt sich
mit seiner Frau ab, um die beiden Grundschulkinder zu unterrichten. Zu
Hause muss man nicht warten, bis alle Schüler*innen aufnahmebereit sind,
erklärt er noch.
Wir sind also in einem Großversuch angekommen. Bundesweit
einheitlich, das allein ist schon ein absolutes Novum für das deutsche
Schulsystem. Das gab es noch nie und das wird es wahrscheinlich nach
Corona auch nie wieder geben.
Überraschend für alle ist, dass mit
digitaler Unterstützung durch Nachhilfeplattformen, Lehrmaterialien und
Tutorials das lernen zu Hause viel besser funktioniert als vorher in der
analogen Welt. Zwei wichtige Erkenntnisse lassen sich daraus ableiten.
Es ist sehr wichtig, alle Schulen komplett zu digitalisieren und dabei
auch allen Schüler*innen die Teilhabe zu ermöglichen. Und es wäre an der
Zeit, mal gründlich über den deutschen Schulzwang nachzudenken.
Einer von mehreren deutschen Bildungssonderwegen ist das
staatliche Bildungsmonopol. Nur vom Staat ausgebildete Lehrer*innen
dürfen an staatlichen (oder vom Staat genehmigten) Schulen den Kindern
Mathematik & Co. beibringen. In den meisten anderen Staaten der Welt
ist das nicht so rigoros geregelt. In einigen Ländern ist es sogar
Verfassungsrecht, die eigenen Kinder selbst zu unterrichten. Kanada
zahlt Eltern 1.000 Dollar dafür, um Chancengleichheit mit den
staatlichen Schulen herzustellen.
Kleiner Ausflug in Sonderwege bei
der Bildung. Homeoffice und Schule daheim sorgen auch für andere Ideen
bei den Erwachsenen, merke ich gerade.
Staatlich verordnete Schulpflicht hat auch gute Gründe,
theoretisch jedenfalls. Es geht um Chancengleichheit und Gerechtigkeit
in der Bildung. Auch in der Corona Krise müssen wir uns Sorgen darum
machen, dass die Schere zwischen Bildungsbürgerkindern und Kindern aus
bildungsfernen Schichten nicht noch weiter auseindergeht.
Die Kinder
aus der Nachbarschaft erzählten, dass eine Lehrerin ihnen geraten hat,
dass „die Mama nicht zu viel helfen soll“. Auf die Frage, warum sie das
nicht solle, hieß es, „sie habe halt studiert und wisse viel mehr als
Eltern, die nicht studiert haben“. Die Lehrerin müsste sonst die anderen
Kinder zu viel „nachschulen“.
Dahinter stehen einige im Kern positiv gedachte Grundsätze. Alle
Schüler*innen sollen gleich behandelt werden, gleiche Chancen haben. In
der Klasse, abseits der Familie, sollen Kinder soziales Lernen üben.
Dabei
fällt mir auf, dass die Qualtität der schulischen Bildung kein Argument
für das staatliche Bildungsmonopol ist. Wenn die Schulpflicht wirklich
positive Auswirkungen auf den Lernerfolg hätte, müsste Deutschland bei
den Pisa-Tests immer ganz weit vorne sein. Sind wir aber nicht.
Stattdessen finden wir da Finnland und dort ist Homeschooling legal.
Dort ist die Pflicht zur Bildung vorgeschrieben, die aber nicht durch
staatlichen Unterricht sondern durch staatliche Prüfungen nachzuweisen
ist.
Ich bemerke gerade, dass ich dabei bin, mich in ein Plädoyer für
Homeschooling rein zu schreiben, als mich das Klingeln des Telefons
rettet. Erfahrungsbericht eines im Homeschooling engagierten Vaters, der
„nebenbei“ auch noch seinen 10 Stundenarbeitstag im selbstständigen
Homeoffice erledigen muss:
Heute war es furchtbar. Keine Lust auf lernen, keine Lust auf gar
nix hat das Kind. Mathe ist sowieso nicht das Lieblingsfach, bei den
Matheaufgaben wurde das Kind rebellisch. Drakonische Strafandrohungen
(keine Lasagne zum Mittagessen und kein Fernsehen für den Rest des
Tages) statt pädagogischem Fingerspitzengefühl brachen sich Bahn. Der
Lernerfolg blieb bei Null, dafür gab es Tränenausbrüche beim Kind und
ein schlechtes Gewissen beim Papa. Dann lieber einen Schwenk zum Lesen
machen. Das ging deutlich besser als rechnen. Und Papa macht sich
versöhnlich gestimmt auf in die Küche, Lasagne zubereiten als
Versöhnungsangebot. Fernsehen bleibt aber trotzdem gestrichen, da
spielen wir lieber zusammen „Mensch ärgere dich nicht“.
Gerade noch die Kurve gekriegt, denke ich mir. Schule zu Hause
muss ja auch nicht heißen, dass die Eltern selber zu nervlich
gestressten „Pauker*innen“ werden.
Das Thema „Lernen mit Corona“ wird
mich länger beschäftigen. Nach ein paar Tagen erklärt mir das
Enkelkind, dass zu Hause lernen doch ganz schön ist, aber die
Freundinnen arg fehlen. Wir verabreden dazu ein längeres Telefonat.
Darauf freut Ihr Euch hoffentlich genauso wie ich.
Bleibt gesund und schaut nach vorne!
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